swissfuture: Wie sieht das Leben nach dem Lockdown aus?



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Corona

Quelle: TCS MyMed


Aktuell stellt sich vielen Menschen die Frage, wie unser Leben nach dem Lockdown aussehen wird. Werden wir weiterhin im Homeoffice arbeiten können? Hat das Homeschooling Auswirkungen auf zukünftige Lernmethoden? Im Interview mit TCS MyMed teilen uns die Experten Dr. Andreas Krafft und Dr. Regula Stämpfli von swissfuture, die Schweizerische Vereinigung für Zukunftsforschung, ihre Einschätzungen für die Zukunft mit.

Das Coronavirus ist nach wie vor sehr aktuell und präsent. Doch nun steuern wir in Richtung Massnahmenlockerung. Was bedeuten diese Lockerungen für die nahe Zukunft?
Dr. Andreas Krafft: Wir stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen gesundheitlichen Schutzvorkehrungen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Viele Menschen, insbesondere solche, die zu einer Risikogruppe gehören, werden sich weiterhin vorsichtig verhalten und dies vielleicht auch von anderen gleichermassen erwarten. Für andere ist die Rückkehr zur «Normalität» von finanziell existenzieller Bedeutung. Wir sollten gerade in der Übergangszeit ein besonderes Verständnis für die unterschiedlichen Bedürfnisse verschiedener Menschen haben. Hier ist gegenseitige Rücksichtnahme gefragt. Jeder muss im Rahmen der allgemeinen Vorgaben des Bundesrats die eigene Vorgehensweise finden. Wenn möglich sollte man auch in den Betrieben sensibel mit diesem Thema umgehen.

Dr. Regula Stämpfli: Die Menschen werden die Erfahrung machen, dass es nur noch ein «neues normal» und keine Rückkehr zum alten Leben geben wird. Die Lockerungen sind nach realistischer Einschätzung eh nur für einige Wochen angelegt. Falls die Ansteckungen wieder zunehmen, wird ein erneuter Lockdown erfolgen. Sowohl für Wirtschaft als auch für die Gesellschaft sind diese Unsicherheiten problematisch. Das «Lerning by doing» ist nicht jedermanns und jederfraus Sache.

Das Virus hat auch das Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen geschürt. Wie stark wird uns dieses Misstrauen in der Zukunft begleiten?
Dr. Andreas Krafft: Misstrauen würde ich es nicht nennen, sondern Vorsicht. Diese wird eine Zeit lang noch bestehen. Wir werden uns wahrscheinlich nicht so schnell wieder bedenkenlos in die Arme fallen. Andererseits erlebe ich, wie diese Situation die Solidarität, Hilfsbereitschaft und Fürsorge zwischen den Menschen gestärkt hat. Im Allgemeinen erlebe ich bezüglich der zwischenmenschlichen Beziehungen, zumindest hier in der Schweiz, mehr positive als negative Effekte. Trotz oder gerade wegen der körperlichen Distanz sind sich viele Menschen, ich rede da sowohl von Familienmitgliedern als auch von Freunden, Nachbarn und Bekannten, eher näher gekommen. Man interessiert sich für Personen, die man lange nicht mehr gesehen hat oder die Unterstützung brauchen, erkundigt sich nach ihrem Wohlergehen und bietet Hilfe an. Dies stärkt eher das Vertrauen zu den Mitmenschen.

Dr. Regula Stämpfli: Der Lockdown von oben, d.h. autoritäre, ja totalitäre Regierungserlasse, verstärken in allen Gesellschaften, selbst den demokratischen, die Neigung zum Denunziantentum. Dies ganz besonders, wenn sich die Gesundheitswächter in ihrer Haltung und in ihrer Lebensart selber als gute Staatsbürger verstehen. Diesbezüglich spielten die Medien eine ziemlich üble Rolle, indem sie, grad zu Beginn der Coronakrise, vor allem auch junge Menschen an den Pranger stellten und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt mit Hetze massiv unterliefen. Leider, so fürchte ich, wird dieses Misstrauen uns noch eine Weile begleiten.

Aufgrund der aktuellen Situation haben viele Betriebe auf Homeoffice umgestellt. Werden die Menschen auch nach der Krise vermehrt von zu Hause aus arbeiten?
Dr. Andreas Krafft: Jede neue Situation hält eine Reihe ungewöhnlicher Möglichkeiten offen, die vorher als scheinbar «unmöglich» oder «unrealistisch» galten. Die aktuelle Erfahrung hat gezeigt, dass Homeoffice möglich ist und in manchen Fällen sogar grosse Vorteile bringt. Videokonferenzen haben sich als eine gute Alternative zu aufwändigen Reisen bewährt. Wir haben auch mehr Flexibilität, Selbstdisziplin und gegenseitiges Vertrauen gelernt. Für viele Menschen kann eine Mischung von traditionellen Bürozeiten und neuen Homeoffice-Lösungen eine Zunahme an Lebensqualität bedeuten. Für die Unternehmen kann dies auch grosse Vorteile haben, sowohl in Bezug auf die Motivation und das Engagement der Mitarbeitenden als auch bezüglich Effizienz und Produktivität. Grundsätzlich gilt es hier, die Autonomie und Selbstverantwortung der Mitarbeitenden zu fördern.

Dr. Regula Stämpfli: Definitiv. Alle Stiftungen und Vereine, denen ich angehöre, haben die Meetings dieses Jahr auf Zoom verlagert. Vielleicht schaffen wir es noch zum gemeinsamen Weihnachtsessen. Gerade die Verbands- und Vereinsarbeit haben sich in diesen paar Wochen massiv verändert. In vielerlei Hinsicht zum Guten, da enorm viele Ressourcen gespart werden. Wir werden indessen aufpassen müssen, dass wir die Balance zwischen Vereinzelung zu Hause und Engagement in der Öffentlichkeit noch gut hinkriegen.

Nicht zu vergessen: Homeschooling. In den letzten Wochen wurden alle Kinder in ihren eigenen vier Wänden unterrichtet, was sowohl die Lehrer wie auch die Kinder und deren Eltern stark gefordert hat. Ist es denkbar, dass auch in Zukunft solche Lehrmethoden einen Platz im Lehrplan finden?
Dr. Andreas Krafft: Auch hier haben sich unterschiedliche Phänomene gezeigt. In vielen Fällen konnten die Kinder und die Familien sehr gut mit den neuen Lernformen umgehen. In anderen Fällen war es eher schwierig. Für manche Kinder, die in der normalen Klassenkonstellation nicht gut «funktionieren» konnten, ist der online-Unterricht sogar zu einem wahren Segen geworden. Schulen sind grundsätzlich eher schwer zu verändern. Es gibt zu viele unterschiedliche Interessen und persönliche Situationen. Es wäre gut, wenn in Zukunft diese neuen Lernmethoden, zumindest als ergänzendes Angebot, vermehrt genutzt würden. So könnte man gezielter auf die individuellen Fähigkeiten, Stärken und Bedürfnisse der Kinder und Familien eingehen. Wie bereits gesagt, jede neue Situation, wie diese Krise, erweitert das Handlungs- und Lösungsrepertoire, was auch nach der Krise ein grosser Gewinn sein kann.

Dr. Regula Stämpfli: Auch hier ein definitives Ja mit dem Zusatz, dass dies nur klappt, wenn auch die Lehrpläne verändert werden. Kernkompetenzen und Übungen zuhause sollten sich mit vernetztem, kulturell vertieftem und sozial fortschrittlichem Unterricht vor Ort ergänzen. Ich hoffe, dass die Lehrpläne 21, die momentane Tendenz zur totalitären Ökonomisierung der Lerninhalte, endlich beerdigt werden. Lesen, Schreiben und Rechnen können auch zuhause am Computer spielerisch geübt werden. Doch die öffentliche Schule braucht es, um kleinen und jungen Menschen Raum für Demokratie und Emanzipation zu geben. Hier ist der öffentliche Raum, das analoge Zusammentreffen unverzichtbar. Lern-Kompetenzen kann man im Homeschooling einüben, soziale, emotionale, spielerische und intelligente Menschwerdung geht ohne Res Publica nicht. Zudem sollte eines nie vergessen werden: Homeschooling benachteiligt Kinder aus bildungsfernen Schichten. Diese Kinder gehen, je nach sozialen Verhältnissen, beim Homeschooling regelrecht vor die Hunde. Dies zu thematisieren wäre eine der wichtigsten Aufgaben aller Medien, vor allem derjenigen, die das Lernen von zuhause aus nun so beklatschen. Zudem: Homeschooling führt in traditionellen Gesellschaften wie der Schweiz dazu, dass vor allem wieder die Frauen an Kinder, Küche und Homecomputer gedrängt werden.

Die Menschen haben sich vermehrt mit dem Thema gesunde Ernährung und Sport befasst. Wird dieser Trend der Normalität weichen oder weitergehen?
Dr. Andreas Krafft: Die aktuelle Situation hat generell das Gesundheitsbewusstsein der Menschen geschärft und ihr Gesundheitsverhalten gefördert. In dieser Hinsicht beinhaltet die Krise auch neue Chancen. Für eine nachhaltige Wende zu einer gesünderen Lebensform, müssen alte Gewohnheiten in Bezug auf schlechte Ernährung, mangelnde Bewegung und wenig Schlaf über Bord geworfen und neue Gewohnheiten angenommen werden. Diese «Ruhemonate» haben uns eine gute Gelegenheit dazu gegeben. Wer «Geschmack» an einer gesunden Ernährung gefunden hat und für wen körperliche Betätigung zur Routine geworden ist, der wird möglicherweise auch später sein Leben danach richten.

Dr. Regula Stämpfli: Dieser Trend bestand schon vor der Coronakrise. Diese hat nun vielen Menschen die Zeit gegeben, eine neue Normalität zu sich, zur Familie und den Nachbarn zu leben. Ich hoffe lediglich, dass sich die Obsession, sich selbst zu optimieren, durch die Coronakrise nicht zugenommen hat. Vor allem unter den jungen Menschen, die eh anfällig sind für alle biopolitischen Vorgaben, die Gesellschaften machen. Und natürlich die Frauen, die noch gesunder, noch fitter und noch schlanker durchs Leben müssen, egal welchen Alters.

Zahlreiche Geschäfte haben in den letzten Wochen ihr Sortiment auch online mit Heimlieferdienst angeboten. Werden diese Angebote zurückgehen oder einen weiteren Aufschwung erleben?
Dr. Andreas Krafft: Auch hier zeigt sich, dass die Menschen in der Not erfinderisch werden. Wir sollen und können aus solchen Erfahrungen lernen und uns weiterentwickeln. Viele Unternehmen haben notgedrungen neue Vertriebs- und Liefermodelle ausprobiert. All das, was sich in der Krise bewährt hat, wird auch danach von Nutzen sein. Auch als Konsumenten haben wir neue Einkaufsmöglichkeiten entdeckt. Wir, als vierköpfige Familie, lassen uns jetzt beispielsweise einmal die Woche das Gemüse von einem solidarischen Landwirtschaftsprojekt in unserer Region per Velokurier nach Hause liefern. Wenn dieses Angebot nach der aktuellen Zeit in ähnlicher Form bestehen bleibt, dann werden wir dies gerne weiterhin in Anspruch nehmen. 

Dr. Regula Stämpfli: Die Gesellschaft als Lieferdienst-Organigramm ist omnipräsent. Dieses Angebot erlebt einen enormen Aufschwung. Wenn Lieferdienste lokal, föderal und regional beschränkt sind, können sie einen wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt und zur demokratischen Partizipation, wie eine Art Genossenschaftsdienste leisten. Falls die Lieferdienste jedoch von den Plattformkapitalisten aus dem Silicon Valley oder von der Volksrepublik China dominiert werden, sind dies schlechte Nachrichten für Demokratie, Ökologie, Tierschutz und Arbeitsrecht. Diesbezüglich müssen sich die demokratischen Regierungen so schnell wie möglich Gedanken machen.

Dr.oec.HSG Andreas M. Krafft ist Forschender und Dozent an der Universität St. Gallen, Leiter des Hoffnungsbarometers, Co-Präsident von swissfuture sowie Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Positive Psychologie.

Dr. phil. Regula Stämpfli ist Historikerin und Politik-Dozentin mit Schwerpunkt Hannah Arendt, Political Design, Digital Transformation und Demokratie-Theorie. Die bekannte Publizistin ist Bestseller-Autorin und unabhängige wissenschaftliche Beraterin für die Europäische Union. Sie gilt international als eine der anerkanntesten Expertinnen für Demokratie, Medien und Digitalisierung. Zusätzlich ist sie Mitglied in zahlreichen internationalen Forschungsinstitutionen und Stiftungen, unter anderem im Vorstand der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung swissfuture.

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