Diagnose ADHS – Was heisst das?

ADHS


Krankheiten

Quelle: TCS MyMed


Christian Imboden

Nicht selten hört man im Alltag die Diagnose ADHS und damit verbunden viele individuelle Geschichten. Doch was bedeutet die Diagnose für die Betroffenen und deren Angehörigen wirklich? Was ist ADHS überhaupt und wie läuft die Behandlung ab? Dr. med. Christian Imboden, EMBA, ärztlicher Direktor und Vorsitzender der Klinikleitung der Privatklinik Wyss AG, gibt Auskunft. 

Herr Imboden, was ist ADHS und was sind die häufigsten Symptome?
Die Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine Verhaltensstörung, die bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen beobachtet werden kann. Sie ist dadurch charakterisiert, dass Betroffene Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeit und Konzentration haben. Zudem zeigen sich häufig auch eine Impulsivität sowie eine körperliche Unruhe, die auch rein innerlich erlebt werden kann, also von aussen nicht sichtbar ist.

Wodurch unterscheiden sich ADHS und ADS?
Das «H» steht für Hyperaktivität. Mit ADS wird das Störungsbild ohne hyperaktive Symptome, also ein vorwiegend unaufmerksamer Typ beschrieben. Daneben bestehen auch eine vorwiegend hyperaktiv-impulsive ADHS sowie eine gemischte ADHS.

Welche Ursache kann ADHS haben?
Die Ursache für die ADHS sind nicht restlos geklärt. Fest steht, dass genetische Faktoren eine erhebliche Rolle spielen und mit über 70 Prozent zur Ausbildung einer ADHS beitragen. Somit sind ausgesprochen oft mehrere Familienmitglieder von ADHS betroffen. Vorgeburtliche Belastungen, komplizierte Geburtsumstände und Stressoren in der frühkindlichen Entwicklung steigern das Risiko für ADHS ebenfalls. Einer ADHS liegt unter anderem ein veränderter Stoffwechsel der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin in gewissen Hirnregionen zugrunde, was Auswirkungen auf die Konzentrationsfähigkeit, Wahrnehmung und Impulskontrolle nach sich zieht.

Wie wird ADHS diagnostiziert?
ADHS ist eine klinische Diagnose, das heisst, sie wird ärztlich aufgrund der typischen Symptome, deren Auftreten im Verlauf des Lebens und der Auswirkungen auf die Funktionalität in verschiedenen Lebensbereichen wie Schule, Arbeit, Beziehungen etc. gestellt. Zur Diagnosestellung werden zusätzlich Fragebogen und standardisierte Interviews verwendet. In manchen Zentren werden auch neuropsychologische Abklärungen gemacht, die aber für die Diagnose nicht zwingend notwendig sind. Körperliche oder medikamentöse Ursachen der Symptome müssen ebenfalls ausgeschlossen werden können

Welche Behandlungsmöglichkeiten stehen für ADHS zur Verfügung?
Die wirksamste Therapie des ADHS erfolgt mit Stimulanzien, Medikamenten aus der Gruppe der Amphetaminabkömmlinge. In der Schweiz sind dies beispielsweise Ritalin, Concerta (beide mit dem Wirkstoff Methylphenidat) oder Elvanse (mit dem Wirkstoff Lisdexamfetamin). Stimulanzien zeigen bei ADHS eine sehr hohe Wirkstärke, welche wissenschaftlich sehr gut belegt ist. Daneben stehen verschiedene andere Medikamente zur Verfügung, welche in den Dopaminstoffwechsel eingreifen, aber etwas weniger wirksam sind. Die medikamentöse Behandlung sollte immer mit einer umfassenden Beratung zur Alltagsstrukturierung sowie zum Entwickeln von Strategien für die verschiedenen schwierigen Situationen, die für ADHS-Betroffene typisch sind, kombiniert werden.

Gibt es weitere Behandlungsansätze?
Regelmässige sportliche Betätigung ist bei manchen Menschen mit ADHS ebenfalls eine gute Methode, die Symptome besser kontrollieren zu können. Des Weiteren gibt es auch spezifische psychotherapeutische Ansätze, um die Belastung im Alltag durch ADHS zu reduzieren. Ob eine Medikation sinnvoll ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab, etwa der Belastung im Alltag, der Ausprägung der Symptome sowie allfällig anderer eingenommener Medikamente und dem Vorliegen von weiteren psychischen oder körperlichen Erkrankungen. Stimulanzien gelten nach internationalen Richtlinien jedoch als «Gold-Standard» der Behandlung von ADHS.

Wie häufig tritt ADHS bei Kindern und Erwachsenen auf?
Weltweit sind gemäss grosser internationaler Studien etwas über fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen von ADHS betroffen. Aufgrund von neurobiologischen Reifungsprozessen nimmt die Aufmerksamkeitsspanne mit dem Erwachsenenalter zu und die Impulsivität ab, sodass noch ca. 2,5 Prozent der Erwachsenen die Diagnosekriterien für eine ADHS erfüllen. Die Problematik ist aber als Spektrum zu sehen, so können Erwachsene, bei welchen im Kindesalter eine ADHS diagnostiziert wurde, durchaus noch bestimmte Symptome aufweisen, die auch belastend sein können, welche aber in der Gesamtschau nicht mehr für eine Diagnose ausreichen.

Wie wirkt sich ADHS auf das tägliche Leben der Betroffenen aus?
ADHS kann sich auf zahlreiche Lebensbereiche auswirken, sodass hier nur eine Auswahl an möglichen Auswirkungen beschrieben werden kann.

  • Aufgaben, die hohe Konzentration erfordern, werden oftmals als ausgesprochen schwierig erlebt. Betroffene sind dabei äusserst rasch abgelenkt und haben grösste Schwierigkeiten, eine Aufgabe zu Ende zu bringen.
  • Ein typisches Merkmal ist auch die Prokrastination (Aufschieben von mühsamen Aufgaben), welche sehr belastend sein kann, da diese andauernd pendent bleiben und sich meistens ein erheblicher Zeitdruck einstellt und vieles «auf den letzten Drücker» erledigt wird. Das betrifft unter anderem Hausaufgaben, das Schreiben von Arbeiten sowie langweilige repetitive Tätigkeiten wie das Erledigen von Zahlungen.
  • Betroffene beschreiben, ihre Gedanken nur schwer ordnen zu können und dadurch laufend unter Stress zu stehen. Entspannung wird aufgrund der Unruhe ebenfalls oft vernachlässigt.
  • Umgekehrt können ADHS-Betroffene bei fehlender äusserer Struktur in eine Blockade kommen, da sie vor lauter Ideen nicht wissen, womit sie beginnen sollten.
  • Im Gegensatz zur Ablenkbarkeit wird auch oft ein Hyperfokus beschrieben; das heisst, dass die Fokussierung bei als interessant erlebten Tätigkeiten sehr stark ist und dadurch die Umgebung nicht mehr richtig wahrgenommen wird und das Zeitgefühl abhandenkommt.
  • Durch die Impulsivität und Hyperaktivität fällt es insbesondere Kindern mit ADHS oft schwer, länger stillzusitzen; sie fallen oft als «vorlaut» oder «frech» auf. Auch Erwachsene beschreiben nicht selten, durch impulsive Äusserungen immer wieder Konflikte und Ablehnung zu erleben. Dadurch kann es auch in Beziehungen oft zu Konflikten kommen, sodass stabile Beziehungen für viele betroffene eine Herausforderung darstellen.
  • Emotionen werden meistens als sehr stark erlebt und können auch ohne äusseren Anlass wechseln. Dasselbe gilt für Interessen an Hobbys oder beruflichen Tätigkeiten, welche manchmal sehr rasch entwickelt werden, zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Thema führen, oft gefolgt von einem Verlust des Interesses und der Aufnahme einer anderen Tätigkeit, die als neu und interessant wahrgenommen wird.


Welche Auswirkungen hat ADHS auf die schulische Leistung und das Arbeitsleben?
Durch die oben beschriebenen Auswirkungen bleiben ADHS-Betroffene oft unter den für sie aufgrund der Intelligenz und der Fähigkeiten möglichen Leistungen. Da sie Hausaufgaben vergessen, das Lernen hinausschieben sowie sich dabei kaum konzentrieren können, leiden die Schulnoten darunter. Insbesondere männliche Kinder und Jugendliche fallen in der Schule auf, weil sie als störend erlebt werden, Wutausbrüche und viele Konflikte haben. Früher wurde darum ADHS bei Knaben deutlich häufiger diagnostiziert als bei Mädchen, welche andere Symptomschwerpunkte zeigen und dadurch im Schulalltag weniger auffallen. Im Arbeitsleben kann sich diese Problematik weiterziehen, sodass Abgabetermine verpasst, Aufgaben unsorgfältig erledigt werden und Betroffene durch Mühe mit der Pünktlichkeit auffallen. Konflikte aufgrund der Impulsivität können den beruflichen Erfolg ebenfalls stark beeinträchtigen.

Gibt es auch positive Effekte?
Umgekehrt können ADHS-Betroffene durch Ihre Fähigkeit, breit zu denken, auch sehr kreativ sein, was sich in der Schule und im Beruf positiv auswirken kann. Die Tendenz zur Hyperfokussierung kann positiv genutzt werden, wenn die Schul- oder Arbeitsinhalte den eignen Interessen entsprechen. Auch zur Kreativität kann die erhöhte Tendenz zu vernetztem Denken positiv beitragen. Ausserdem zeigen manche Menschen mit einer ADHS eine hohe Empathiefähigkeit, was sich in entsprechenden Berufsfeldern sowie im Privatleben sehr positiv auswirken kann. Insbesondere Menschen mit Symptomen aus dem ADHS-Spektrum, die im Laufe des Lebens funktionierende Strategien im Umgang mit den Symptomen entwickelt haben, können dadurch sehr erfolgreich sein, wenn sie einen Tätigkeitsbereich finden, der ihren Interessen und Fähigkeiten entspricht.

Wie können Eltern und Lehrpersonen mit Kindern umgehen, die von ADHS betroffen sind?
Einerseits sind klare Strukturen in der Schule und zu Hause sinnvoll. Klar definierte Termine und die Unterstützung beim Führen eines Aufgabenbüchleins oder einer Agenda sowie bei der Planung von Aufgaben können dabei hilfreich sein. Gewisse Kinder mit ADHS profitieren davon, bei längeren Aufgaben, die Konzentration erfordern, kurze Bewegungspausen einzulegen. Genügend körperliche Betätigung kann ebenfalls helfen, die Unruhe zu reduzieren und die Konzentration zu verbessern. Zentral ist, dass Eltern Symptome und Auswirkungen der ADHS gut kennen und Verständnis für die individuelle Situation betroffener Kinder haben, anstatt diesen das Gefühl zu geben, dass sie «faul», «dumm» oder «schwierig» sind. Kinder mit ADHS haben nicht selten ein ausgesprochenes Bedürfnis nach stark stimulierenden Tätigkeiten wie Computerspielen, welche einerseits helfen können, den Kopf von den vielen Gedanken zu befreien, zugleich aber auch Unruhe und Aggressivität fördern können. Hier gilt es, einen verständnisvollen Umgang mit klaren Regeln zu finden, die auch durchgesetzt werden. Es gibt auch spezielle Therapieprogramme, die nicht nur die Kinder involvieren, sondern auch den Eltern Kompetenzen vermitteln und schulzentrierte Ansätze bieten (THOP).

Gibt es Möglichkeiten, ADHS ohne Medikamente zu behandeln?
Es gibt eine Vielzahl an nicht-medikamentösen Behandlungsstrategien. Über das gesamte Altersspektrum können spezifische psychotherapeutische Ansätze sowie spezifische Coachings hilfreich sein. Bei Kindern und Jugendlichen besteht auch die Möglichkeit von Elterntrainings sowie familien- und schulbasierte Interventionen.

Betroffene kämpfen oft mit Vorurteilen. Wie kann die Stigmatisierung von ADHS in der Gesellschaft reduziert werden?
Wie auch bezüglich anderer psychischer Erkrankungen ist eine anhaltende Öffentlichkeitsarbeit zur Entstigmatisierung essenziell. Eine wichtige Rolle spielen bei ADHS auch die Schulung von Lehrpersonen sowie Schulworkshops zu Themen der psychischen Gesundheit. Eine wichtige Botschaft sollte sein, dass ADHS eine spezifische Art ist, wie manche Menschen wahrnehmen und denken, und je nach Situation und Herausforderungen sowohl Schwierigkeiten als auch Vorteile mit sich bringt. Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, dass die Diagnose zu häufig vergeben wird, ist ADHS nicht über-, sondern gerade bei erwachsenen Menschen, insbesondere Frauen, unterdiagnostiziert. Auch bezüglich der ausgesprochen guten Wirksamkeit der Stimulanzien und der mit ihnen assoziierten Mythen besteht noch viel Klärungsbedarf.


Die Privatklinik Wyss ist eine führende Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Gegründet im Jahr 1845, ist sie die älteste psychiatrische Privatklinik der Schweiz. Zu den Kompetenzbereichen gehört die Behandlung von Depressionen inklusive Burnout sowie von Angst- und Zwangsstörungen. Die Klinik bietet ihre ambulanten, tagesklinischen und stationären Leistungen in den Regionen Bern, Münchenbuchsee und Biel an. Zudem steht sie für ein spannendes Umfeld als Aus-, Weiter- und Fortbildungsstätte und beschäftigt ein interprofessionelles Team von rund 340 Mitarbeitenden. 

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