Migräne: Weit mehr als Kopfschmerzen

Migräne


Krankheiten

Quelle: TCS MyMed


Personen, welche unter Migräne leiden, haben oftmals auch mit Stigmatisierung zu kämpfen, da es für Nicht-Betroffene schwer nachzuvollziehen ist, welcher Leidensdruck dahinter steckt. Frau Dr. med. Judith Brunn, des Kopfwehzentrum Hirslanden Zürich, klärt auf.

Was genau ist Migräne und wie unterscheidet sich diese von «normalen» Kopfschmerzen?
Bei der Migräne handelt es sich um eine chronische, neurologische Grunderkrankung, bei der es in unregelmässigen Abständen zu anfallsartigen, meistens sehr starken Kopfschmerzen kommt. Diese unterscheiden sich von «normalen» Kopfschmerzen nicht nur bezüglich ihrer Intensität, sondern auch in Bezug auf ihre Begleiterscheinungen, die verschiedene Organsysteme umfassen können. Die Migräne ist damit deutlich umfassender als ein «normaler Kopfschmerz», und die Attacken folgen oft einem komplexen Ablauf aus Vorstadium, ggf. Aura, Schmerzstadium und Regenerationsphase.


Welche Symptome sind typisch für Migräne?
Bei ca. 20 Prozent der Patienten und Patientinnen geht der Migräne eine «Aura» voraus. Das heisst ein- oder beidseitige Sehstörungen, Gefühlsstörungen oder Beschwerden rund ums Sprechen/Sprache. Zudem werden von vielen Betroffenen unspezifische Vorzeichen in Form von starker Erschöpfung, Heisshunger, Unwohlsein, Krankheitsgefühl, Gereiztheit, depressiver Stimmungslage, Nackenverspannungen oder Magen-Darm-Beschwerden beschrieben. Nach einer Migräneattacke wiederum fühlen sich die Betroffenen häufig sehr erschöpft, «wie vom Traktor überfahren» und leiden unter Einschränkungen der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit.

Wie diagnostizieren Sie die Erkrankung?
Die Migräne wird anhand spezifischer Diagnosekriterien gemäss der Internationalen Kopfschmerzklassifikation (ICHD-3) diagnostiziert. Sie kann dann diagnostiziert werden, wenn es zu mindestens fünf Kopfschmerzattacken mit einer Dauer von Stunden bis Tagen gekommen ist, wobei typischerweise ein einseitiger, mittelstarker bis starker, pulsierender Kopfschmerz auftritt, der sich durch Routineaktivtäten (z. B. Treppensteigen) verstärkt. Gefordert wird ausserdem mindestens eins von zwei Begleitsymptomen in Form von Licht- und Lärmempfindlichkeit bzw. Übelkeit und/oder Erbrechen. Für die Diagnosestellung einer Migräne sollten andere, «sekundäre» Kopfschmerzen, bei denen den Schmerzen eine strukturelle Ursache zugrunde liegt (z. B. ein Tumor oder eine Gefässfehlbildung), anhand der Beschwerdeschilderung sowie ggf. ergänzender apparativer Massnahmen ausgeschlossen werden.

Nicht jeder Mensch leidet an Migräne. Worin unterscheiden sich Personen mit und ohne Migräne?
Diese Frage ist bisher noch nicht abschliessend geklärt und Gegenstand intensiver Forschung. Vermutlich liegen bei Migränikerinnen und Migränikern verschiedene genetische Veränderungen vor, die zu einer veränderten Ausschüttung von Botenstoffe (z. B. Glutamat und Calcitonine Gene-Related Peptide CGRP) führen. Dies führt zu einer übermässigen, permanenten Aktivierung der Gehirnzellen, mit erhöhtem Energiebedarf. Wird das Gehirn – z. B. durch starke äussere Stimuli oder Stress – zusätzlich übermässig aktiviert, kann es zu einer Erschöpfung der Energiereserven und einer Entgleisung der nervalen Steuerung kommen. Dies begünstigt eine entzündliche Reaktion von Hirnhäuten und Gefässen sowie eine Aktivierung des trigeminalen Schmerzsystems, was dann zu Migränekopfschmerzen führt. Im Verlauf kann es durch negative Feed-Back-Schleifen so zu einer dauerhaften trigeminalen Erregung mit Chronifizierung der Schmerzen und erhöhter Schmerzempfindlichkeit kommen.

Welche Behandlungsmöglichkeiten stehen Betroffenen zur Verfügung?
Grundsätzlich wird bei der Migräne zwischen einer Akutbehandlung sowie einer vorbeugenden, prophylaktischen Therapie unterschieden. Um in der Vorbeugung einen möglichst guten Behandlungserfolg zu erzielen, ist ein multimodales Therapiekonzept wichtig, bei dem unter anderem dem Erkennen individueller Auslöser und deren Vermeidung eine grosse Bedeutung zukommt. Weiterhin kann mit regelmässiger sportlicher Aktivität, Nahrungsaufnahme und Schlafroutine manchmal bereits eine Besserung der Beschwerden erreicht werden.

Was gilt es ergänzend zu beachten?
Ergänzend können auch physiotherapeutische Massnahmen, Craniosakraltherapie, Biofeedbackbehandlungen, Entspannungsübungen, der Einsatz von Elektrostimulationsgeräten (TENS) und psychotherapeutische Massnahmen hilfreich sein. Zudem stehen verschiedene medikamentöse Möglichkeiten zur prophylaktischen Behandlung zur Verfügung (s. u.). Akuttherapeutisch ist der optimierte Einsatz von Schmerzmitteln, den migränespezifischen Triptanen, sowie ggf. von Medikamenten gegen die Übelkeit notwendig, um den Leidensdruck in den Attacken zu reduzieren und deren Dauer zu verkürzen.

Gibt es spezielle Medikamente, die zur Vorbeugung von Migräne eingesetzt werden können?
Ja. Vorbeugende medikamentöse Massnahmen sollten immer dann erwogen werden, wenn mit den oben genannten Lebensstilanpassungen und ergänzenden Massnahmen keine ausreichende Senkung der Migränefrequenz erreicht werden kann (<5–6 Migränetage/Monat) oder keine ausreichende Akutbehandlung in den Migräneattacken gelingt, sodass die Betroffenen in ihrem Alltag einen relevanten Leidensdruck haben. Dabei stehen vorbeugend zur Behandlung der Migräne unter anderem verschiedene blutdrucksenkende Medikamente, Antiepileptika sowie Antidepressiva zur Verfügung. Diesen Medikamenten ist gemein, dass sie neben ihrem eigentlichen Einsatzgebiet durch die Veränderung der Ausschüttung verschiedener Botenstoffe bzw. Modulation des schmerzverarbeitenden Systems die Migränefrequenz und -intensität positiv beeinflussen können.

Gibt es ein Medikament, welches spezifisch für Migräne entwickelt wurde?
Seit einigen Jahren stehen als erste migränespezifische Prophylaxe auch Antikörper gegen die Calcitonin Gene-Related Peptide (kurz: CGRP) zur prophylaktischen und Akuttherapie der Migräne zur Verfügung. 

Welche Rolle spielen Hormone bei der Entstehung von Migräne und wie beeinflussen sie die Behandlung?
Besonders das Östrogen kann bei Frauen einen entscheidenden Einfluss auf die Migräne haben und zu Veränderungen von Häufigkeit und Intensität der Beschwerden in Pubertät, Schwangerschaft, aber auch Menopause führen. Nicht selten tritt eine Migräne bei Frauen erstmals mit dem Beginn der Menstruationsblutungen in der Pubertät auf. Die Hormonschwankungen im Rahmen der Menstruation können im Verlauf zudem ein Trigger für Migräneattacken bleiben. Im Gegensatz dazu zeigt sich im Rahmen einer Schwangerschaft oder in der Menopause durch die ausbleibenden Hormonschwankungen häufig eine Besserung der Migräne.

Kann die Einnahme der Antibabypille einen Einfluss auf die Migräne haben?
Der Einfluss der Hormone spielt auch beim Einsatz von hormonellen Verhütungsmitteln eine grosse Rolle. Östrogenhaltige Antibabypillen können zu einer Verschlechterung, rein gestagenhaltige Präparate hingegen zu einer Besserung der Migräne beitragen. Auch in der Perimenopause können extern zugeführte Hormone (z. B. in Gelform) zu einer Glättung der Hormonspiegel und Verbesserung der Migränebeschwerden führen. Bei Männern ist der Einfluss von Hormonen auf die Migräne noch wenig untersucht und spielt in der Behandlung bisher keine Rolle.

Vermeiden Sie Triggerfaktoren

  • bestimmte Nahrungsmittel
  • Höhenaufenthalte
  • bestimmte sportliche Aktivitäten
  • unregelmässiger Schlafrhythmus
  • Alkoholkonsum
  • starke Licht- und Lärmbelastung
  • starke Gerüche
  • Stress
  • Hormonschwankungen
  • Wetterumschwünge
  • Fasten
  • bestimmte Medikamente

Wie können Betroffene selbst dazu beitragen, ihre Migränesymptome zu lindern oder diesen gar vorzubeugen?
Für Migränikerinnen und Migräniker ist es wichtig, die individuellen Triggerfaktoren (siehe Box) für das Auftreten von Migräneattacken zu erkennen und wenn möglich zu vermeiden. Andersrum kann eine Migräne – in begrenztem Ausmass – durch Ausdauer- und Kraftsport, Entspannungstechniken, Normalgewicht, ausreichende Flüssigkeitszufuhr, regelmässige Nahrungsaufnahme, Reduktion von Bildschirmzeiten vor dem Schlafengehen, regelmässigem Schlafrhythmus und Nikotin- und Alkoholkarenz im Hinblick auf die Intensität und Frequenz der Attacken positiv beeinflusst werden.

Gibt es spezielle Risikofaktoren, die das Auftreten von Migräne begünstigen können?
Ja. In genomweiten Assoziationsstudien wurden Ausprägungen und Veränderungen bestimmter Gene untersucht, die im Zusammenhang mit bestimmten Erkrankungen auftreten. In diesen Studien konnten >35 Gene identifiziert werden, die ein erhöhtes Risiko für das Auftreten einer Migräne bedingen. Sie stehen mit der Ausschüttung verschiedener Botenstoffe (z. B. Glutamat und CGRP) in Verbindung sowie mit der Regulation von Blutgefässen. Dabei scheint die Migräne die Folge einer Interaktion verschiedener veränderter Gene zu sein. Passend hierzu haben ca. 70 Prozent der Migräneerkrankten betroffenen Familienangehörige ersten Grades.

Gibt es weitere Faktoren?
Ein weiterer Risikofaktor ist das weibliche Geschlecht, da ca. 60 Prozent aller Migränebetroffenen Frauen sind. Sekundär können verschiedene Medikamente oder strukturelle Veränderungen im Gehirn zu migräneartigen Kopfschmerzen führen, die von einer primären Migräne differenziert werden müssen.

Wie wichtig ist eine regelmässige ärztliche Betreuung für Patienten mit Migräne und welche Untersuchungen werden dabei durchgeführt?
Eine regelmässige, fachärztliche Betreuung von Migränepatientinnen und -patienten ist für deren Lebensqualität oft von grosser Bedeutung. Dabei kommt es im Rahmen der ärztlichen Erstvorstellung zunächst darauf an, die Diagnose einer Migräne richtig zu stellen und der/dem Betroffenen zu erläutern. Hierzu werden zusätzlich zur genauen Erhebung der Krankheits- und Familiengeschichte der/des Betroffenen manchmal auch bildgebende Verfahren (Magnetresonanztomographie) und laborchemische Untersuchungen eingesetzt. Dies dient dem Ausschluss anderer Kopfschmerzarten.

Wie geht es weiter?
Anschliessend ist eine regelmässige Betreuung der Betroffenen sinnvoll, um eine passende Schmerztherapie und ggf. vorbeugende medikamentöse Einstellung vorzunehmen. Dafür ist eine möglichst genaue Dokumentation von Beschwerden, auslösenden Faktoren und Medikamenteneinnahme in einem Kopfschmerztagebuch notwendig. Neben den medikamentösen Behandlungsoptionen sollte der betreuende Arzt oder die betreuende Ärztin auch über mögliche ergänzende Therapiemassnahmen und hilfreiche Anpassungen der Lebensführung informieren und den Betroffenen in Bezug auf die psychosozialen Herausforderungen unterstützen, die die chronische Grunderkrankung mit sich bringen kann.

Inwiefern kann eine gezielte Stressbewältigung dazu beitragen, die Häufigkeit von Migräneanfällen zu reduzieren?
Wie oben geschildert, sind beruflicher und privater Stress häufige Auslöser für Migräneattacken, weil sie zu einer Dekompensation des ohnehin schon überaktiven Nervensystems führen können. Stressbewältigungstechniken können daher dazu beitragen, die Migränefrequenz zu reduzieren. Trotzdem bleibt die Migräne eine multifaktorielle Erkrankung, und die Migräneattacken können jeweils durch sehr individuelle und vielfältige Faktoren ausgelöst werden. Auch mit einer sehr guten und gezielten Stressbewältigungsstrategie lässt sich daher eine Migräne jeweils nur begrenzt beeinflussen und niemals «heilen».

Welche langfristigen Auswirkungen kann unbehandelte oder unzureichend behandelte Migräne auf den Körper haben?
Die wichtigsten langfristigen Folgen einer unzureichend behandelten Migräne sind psychosozialer Natur: Oft leiden die Betroffenen sehr darunter, sodass sowohl die Freizeit als auch berufliche oder schulische Aktivitäten durch die Migräne relevant eingeschränkt sind. Dies kann zu einem sozialen Rückzug führen, weil Betroffene Verabredungen wegen Ihrer Migräne wiederholt absagen müssen oder an gewissen Aktivitäten nicht teilnehmen können, weil diese ihre Migräne triggern. Manchmal entsteht so ein Teufelskreis aus körperlicher Inaktivität, Schonhaltung und Migränekopfschmerzen. Viele Betroffene erleben in ihrem privaten und beruflichen Umfeld zudem abfällige Bemerkungen und Unverständnis für ihre Beschwerden und fühlen sich dadurch mit ihrer chronischen Erkrankung nicht ernst genommen und alleine gelassen. Sie verzweifeln daran, dass sie trotz all ihrer Bemühungen und Einschränkungen ihre Migräne «nicht in den Griff bekommen» und ihre Beschwerden als «psychisch» abgestempelt werden. 

Was können mögliche Folgen davon sein?
Häufig kommt es zu Ängsten, Depressionen und Schlafstörungen im Zusammenhang mit Migräne. Sie werden auch durch strukturelle Veränderungen im Nervensystem begünstigt, die im Zusammenhang mit häufigen und schweren Migräneattacken entstehen. Zudem kann es durch den erhöhten Gebrauch von Schmerzmitteln auch zu einer paradoxen Verstärkung der Migränebeschwerden (sogenannter «Medikamentenübergebrauchskopfschmerz») und zur Schädigung anderer Organe (Niere, Leber, Magen) kommen. Bei einer Migräne mit Auren besteht überdies ein erhöhtes Risiko für Gefässverschlüsse und Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, besonders wenn es zu häufigen Migräneattacken kommt oder zusätzliche Risikofaktoren vorliegen. Bei diesen Betroffenen ist somit eine ausführliche Aufklärung und Kontrolle der Risikofaktoren besonders wichtig.

Was sollte man tun, wenn sich eine Migräneattacke anbahnt?
Das «Anbahnen» einer Migräneattacke kann sich sehr unterschiedlich äussern. Einige Betroffene bemerken vorgängig Auren, andere unspezifische Prodromi (Vorläufersymptome) vor dem Beginn der Beschwerden oder beides (Prodromi und Auren). Bei manchen Betroffenen kommen die Migränekopfschmerzen auch ganz plötzlich, «wie aus dem Nichts heraus». Entsprechend sind auch die Massnahmen zu Beginn einer Migräneattacke sehr individuell. Viele Betroffene profitieren von Rückzug und Ruhe, Kühlung des Kopfes und Flüssigkeitszufuhr sowie der rechtzeitigen Einnahme von Schmerzmedikamenten, wobei neben den frei verkäuflichen Schmerzmitteln auch den migränespezifischen Triptanen und Tabletten gegen die Übelkeit eine grosse Bedeutung zukommt.

QR-Code, Kopfschmerz- und Migränetag

Kopfschmerz-  und Migränetag

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(Sprache Veranstaltung: Deutsch)


Dr. med. Judith Brunn, Hirslanden

Dr. med. Judith Brunn

Fachärztin für Neurologie, FMH
Master of Public Health (MPH)
Zertifizierte Gutachterin SIM


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